Verzweiflung und Verlorenheit
- Stefan Haderer
- 20. Apr.
- 1 Min. Lesezeit
Verzweiflung zeigt sich als ein Zustand, der den Menschen an die Grenzen seiner Existenz führen kann. Sie ist mehr als nur ein starkes Gefühl - sie ist ein Erschüttern des Selbst, ein Infragestellen des eigenen Daseins.
Für den dänischen Philosophen Søren Kierkegaard ist Verzweiflung der Ausdruck dafür, dass der Mensch sich selbst nicht sein will - oder nicht ertragen kann, wer er ist. Sie ist in diesem Sinne ein geistiger Zustand, eine Krankheit zum Tode, die nicht am Körper, sondern zunächst am Selbst zehrt. Verzweiflung ist für Kierkegaard nicht einfach psychisches Leiden, sondern spirituelle Entfremdung - eine Form von Sünde, nicht im moralischen, sondern im existentiellen Sinn: der Bruch mit dem eigenen Wesen, mit Gott, mit dem Sinn.
Der Theologe Eugen Drewermann sieht Verzweiflung als Erfahrung radikaler Verlorenheit: der Mensch, entwurzelt, seiner inneren Heimat beraubt, ringt mit dem Schweigen Gottes und der Kälte der Welt. Verzweiflung zeigt sich im Gefühl der Ausweglosigkeit, im Verlust von Vertrauen - in sich, in andere, in ein tragendes Ganzes.
Doch Verzweiflung kann auch ein Durchgang sein, ein Moment, in dem das bisherige Denken zerbricht und Raum für etwas Neues entsteht. Kunst und Literatur, wie bei Wolfgang Borchert, vermögen es diese Risse sichtbar zu machen - sie zeigen Menschen, die nach dem Krieg durch die Nacht ihrer Seele gehen und doch fragen: Wo ist ein Mensch?
Verzweiflung ist nicht bloß ein psychisches Phänomen, sondern existentieller Ernstfall. Sie fragt uns: Woran halte ich mich fest, wenn nichts mehr trägt? Was bleibt, wenn alles fällt? Und kann in dieser Leere ein neuer Anfang liegen?